75-jähriger Patient wird von Ehefrau, Tochter und Sohn in Praxis gebracht – die Ehefrau hatte den Termin als Nottermin vereinbart.
Beschwerden
Patient sei zunehmend verhaltensauffällig, er mache zu Hause „komische Sachen“ und habe seinen Aufgaben auf dem Hof nicht mehr im Griff. Der Alkoholkonsum habe zugenommen, er könne manchmal Arbeiten an den Maschinen nicht mehr durchführen, kaufe aber immer neue Geräte ein und bringe damit die Familie und den Hof in finanzielle Schwierigkeiten. Wenn man ihn kritisiere oder wohlwollend helfen wolle, dann reagiere er abweisen und aggressiv. Er schreie und schimpfe unangemessen, dass es im Dorf schon peinlich werde. Kurze Zeit später erinnere er den Grund für den „Ausbruch“ und auch die Heftigkeit nicht mehr.
Befunde
Psychopathologischer Befund
Wach, mäßig gepflegt, berichtet kaum aktiv und insgesamt sehr einfach, eher abweisend und unwillig, in Mimik und Gestik arm, affektiv wenig schwingend, zeitlich und zur Situation nicht, zur Person ausreichend orientiert, Auffassungsstörungen und deutlich Gedächtnisstörungen bestehen – sowohl im Kurzzeit als auch im Langzeitgedächtnis, Ängste werden verneint, er sei früher Perfektionist gewesen – kein Anhalt für Zwangshandlungen oder -gedanken, sozialer Rückzug klingt an, wahnhaftes Erleben und Wahrnehmungsstörungen werden von den Angehörigen angedeutet, Stimmung nicht deutlich gedrückt – Freude sei vermindert, keine akute Suizidalität.
Vegetative Anamnese
- Durchschlafstörungen erheblich ausgeprägt, fehlender Tag-Nacht-Rhythmus
- Appetit eher gesteigert – Essen mit Kontrollverlust, keine gastrointestinalen-Beschwerden
- Keine Herzbeschwerden, keine Atemnot, Blutdruck sei immer zu hoch und medikamentös kaum zu beherrschen
Tox. Anamnese
- Früher starker Raucher gewesen – 1 Schachtel Zigaretten pro Tag, aktuell kaum Gebrauch
- Trinke seit Jahrzehnten am Abend Bier – in der Jugend an jedem Wochenende Exzesse, in der Familie dann täglich 1-2 Biere am Abend, aktuell seit einigen Monaten schon über den Tag verteilt Bier
- Keine Drogenerfahrungen
- Medikamente: Hypertonie-Medikamente, Antikoagulation, L-Dopa
Eigenanamnese
- Körperliche Erkrankungen: Wirbelfrakturen in mehreren Etagen nach Sturz im Garten danach erheblich verwirrt gewesen, langer Krankenhausaufenthalt und Reha vor 1 Jahr, heute noch anhaltend Schmerzen beklagend
- Morbus Parkinson (Mb.) seit 1 Jahr bekannt
- Psychisch: nach der Wende sei er „mal schwermütig“ gewesen, aber nie in Behandlung
Fremdanamnese (Ehefrau, Töchter)
- Habe lebenslang körperlich gearbeitet und sei auch fit gewesen – Wirbelfraktur im vergangenen Jahr habe alles verändert – er habe zwar weiterhin den Anspruch, den Ton auf dem Hof anzugeben, schaffe dies aber weder körperlich noch organisatorisch, habe keinen Überblick mehr
- Habe Geräte gekauft, die gar nicht gebraucht werden
- Gerate neuerdings mit den Nachbarn in Streit – scheint Konflikte zu suchen
- Behauptet auch immer wieder Zusammenhänge, die nicht wahr sind
- Sehe mitunter Menschen nachts auf dem Hof, die aber sonst Niemand sehe
- Fahre noch Auto, dies allerdings zunehmend unsicher, fahre aber nur zum Einkaufen und auf bekannten Strecken
Vorgehen in der Praxis: Einleitung eingehender Diagnostik
- Diagnose: gemischte Demenz bei Mb. Parkinson mit Verdacht auf Anteile einer Alzheimer-Demenz, Wahrnehmungsstörungen im Rahmen der gemischten Demenz sowie Verhaltensauffälligkeiten
- Demenztestungen werden in der Praxis durchgeführt, können aber aufgrund der fehlenden Mitwirkung des Patienten nur teilweise ausgeführt werden
- Bildgebung wurde angefordert: Hirnvolumenminderung mit frontotemporaler Betonung
- Lumbalpunktion wird wegen der Rückenverletzungen nicht durchgeführt, Diagnose wird klinisch gestellt
Verlauf
Aufgrund der Schwere der Erkrankungen und der Komplexität der unterschiedlichen Versorgungsfacetten sind in den ersten 2 Monaten Facharzt-Termine in Abständen von 1-2 Wochen erforderlich
- Fallberatung mit behandelndem Neurologen zur gemeinsamen Behandlungsplanung:
- L-Dopa-Gabe soll zeitnah reduziert werden, da Wahrnehmungsstörung Nebenwirkung dieser Behandlung sein können
- Gabe eines Antidementivums soll versucht werden
- Neuroleptikum zur Behandlung der Verhaltensauffälligkeiten und Wahrnehmungsstörungen bei Demenz wird eindosiert
- Kollegialer Austausch muss nun bei jeder Änderung der neurologischen und psychiatrischen Medikation erfolgen!
- Viele Gespräche mit dem Patienten und vor allem den Angehörigen:
- Erkrankungen erläutert sowie begrenzte Einflussmöglichkeiten und Prognose
- Bestehende Fahruntauglichkeit wird deutlich gemacht – Beratung zum Umgang mit den Erwartungen des Patienten und der notwendigen Stilllegung des Autos – Nachfragen nach Umsetzung der Stilllegung und mehrfache Korrektur der auch bei den Verwandten bestehenden Fehlannahme, dass schon nichts passieren wird auf bekannten Strecken
- Wirkung, Wechselwirkung und mögliche Nebenwirkungen der Medikamentenänderungen erläutert, Wirkeintritt der Medikation geprüft, Anpassung der Medikation (Wechsel und Dosiserhöhung des Antidementivums, Dosisanpassung des Neuroleptikums bei zunächst unzureichender Wirkung)
- Sozialmedizinische Beratung zum wachsenden Pflegebedarf und zu möglichen Hilfen und Entlastungen
- Beantragung des Pflegegrades
- Beantragung eines GdB (Grad der Behinderung)
- Hinzuziehung eines Pflegedienstes
- Anmeldung in Tagespflegeeinrichtung
- Anmeldung in Pflegeheimen und Recherche zu den in der Umgebung befindlichen Pflegeeinrichtungen empfohlen – wird zunächst aber von Angehörigen abgelehnt
- Verordnung der Medikamenten-Gabe durch einen Pflegedienst, da sich Ehefrau des Patienten nicht dafür durchsetzen kann
Verlauf nach 9 Monaten
Ehefrau kommt alleine in die Praxis
- Berichtet von der zunächst stabilen Situation nach Optimierung der Medikation und Installation von Hilfen (Pflegedienst, Tagespflege an 2 Tagen/Woche, wechselnde Unterstützung der Töchter und deren Familien an den Wochenenden, …)
- Seit mehreren Wochen waren dann aber die Nächte wieder unruhig, der Ehemann geisterte dann im Hause umher und war überzeugt davon, dass es schon Tag ist – Änderung der Medikation brachte keine ausreichende Stabilität
- Zunehmend war er nicht nur urin- sondern auch stuhlinkontinent und setzte dies im ganzen Hause ab – fand Toilette nicht mehr
- Vor 10 Tagen stürzte der Patient nachts und zog sich eine Beckenfraktur zu – Klinikeinweisung musste erfolgen – Umzug in ein Pflegeheim wurde dann vom Krankenhaus dringend empfohlen und dies wird morgen schon umgesetzt – sie traue sich gar nicht ins Krankenhaus zu ihrem Mann, weil sie so ein schlechtes Gewissen habe
- Stützendes und umfassendes Angehörigengespräch erfolgte – Beratung auch zu Selbsthilfegruppen und zur Mobilisierung von Ressourcen zur Selbstführsorge